Als wir uns gegen 8:30 zum Frühstück im Speisewagen trafen, schien es, als wäre uns die Zugfahrt gar nicht so schlecht bekommen, gut gelaunt setzten wir uns an die sechs Tische und ließen uns das karge Frühstück munden.
Vor den Fenstern des Zuges hatte sich die Landschaft gegenüber Luoyang entscheidend verändert, wir waren nämlich aus dem "Gelben China" ins "grüne China" gelangt, hatten also die Lößlandschaft des Huanghe verlassen und befanden uns nun im ostchinesischen Flachland des Yangze-Beckens. Zur Linken und Rechten breiteten sich, so weit das Auge reichte, nahezu eintönig Reisfelder aus. Abwechslung brachten Städte (immer stärker durch Industriewerke geprägt), Dörfer, Gemüsebeete, Wasserläufe, Teiche (u.a. für Fischzucht) und Seen - das für das subtropische China mit seinem feucht-heißen Klima typische Landschaftsbild.
Leichte Hügelketten kündigten am späten Vormittag das Bett des Yangze an, von den Chinesen im Gegensatz zum Huanhe, der als der "Vater Chinas" gilt, liebevoll "Mutter Chinas" genannt, den wir schließlich um 11:00 auf der zwischen 1960 und 1968 gebauten doppelstöckigen, 1677 m langen Brücke im "Untergeschoß" überquerten.
Damit waren wir auch schon in der alten Hauptstadt Nanjing angelangt, deren Bahnhof uns nur ein kurzer Stop bedeutete. Kaum hatte sich der Zug wieder in Bewegung gesetzt, als wir zum Mittagessen in den Speisesaal gebeten wurden (12:00-12:40)
Unser Tagesziel Suzhou erreichten wir um 14:50 und freuten uns darauf, Ruß und Staub der Zugfahrt bald abwaschen zu können. Am Bahnhof wurden wir von der reizenden "suzhou-verliebten" und eloquenten Frau Zhu, ihrer Praktikantin Xi und dem Fahrer Yu liebevoll im "Paradies auf Erden", wenn man Hangzhou als "Himmel auf Erden" akzeptieren will, willkommen geheißen und in das jüngstens renovierte Suzhou-Hotel, das Suzhou gemäß in einem großen Park liegt, gebracht. Während der Fahrt bekamen wir einen ersten Eindruck von der Stadt mit ihren 700.000 Einwohnern (400.000 Fahrrädern), die wegen ihrer zahlreichen Kanäle und über 170 Brücken (früher waren es 340) als das "Venedig Chinas" gilt.
Suzhous Geschichte reicht als landwirtschaftlicher Marktflecken bis in die Zeit der Östlichen Zhou-Dynastie (770-221 v.Chr.) zurück. Größere Bedeutung erlangte die Stadt jedoch erst nach Fertigstellung des Kaiserkanals im 12./13. Jh. Als Handelszentrum erreichte sie hohen Ruhm und erlebte in den Ming- und Qing-Zeiten den Ausbau als Gartenstadt. Viele Landbesitze, Beamte und Kaufleute zogen "aufs Land in der Stadt", indem sie die weite Welt mit ihren besonderen Eigenschaften, den Bergen, Seen und Wäldern, auf einen kleinen Punkt, den chinesischen Garten, projizierten. Fantasiereiche und künstlerisch begabte Architekten hatten die Aufgabe zu bewältigen, ohne finanzielle Grenzen die Harmonie des großen Kosmos im Kleinen zu verwirklichen. In Kriegs- und Notzeiten, wie beispielsweise während des Taiping-Aufstandes 1860-1863, verwahrlosten diese Anlagen und wurden gar zerstört. Suzhous sagenhafter Ruhm erhielt es jedoch selbst während der mörderischen Besatzungszeit im Krieg gegen die Japaner am Leben. So pflegt und hegt man heute von den 271 Gärten der Ming- und 137 der Qing-Zeit noch 14 als Zeichen eines großen kulturellen Erbes.
Unser Besichtigungsprogramm für diesen Tag hatte noch 3 Punkte:
1.) Erste Seidenfabrik (16:00-16:30): im Yangze-Tal sind die seidenproduzierenden Städte unerbittliche Konkurrenten - so ist immer wieder zu hören, dass der gerade besuchte Ort die beste Seide liefere. Um eine ruhigen Eintritt in diese Atmosphäre zu erhalten, besuchten wir in der Ersten Seidenfabrik Suzhous den Verkaufs- und Bühnenraum, wo wir die vorzüglichen Produkte der Fabrik sehen und erwerben, bzw. die Bedeutung der Suzhouer Seide in der Vergangenheit anhand einer antiken Kostümschau (16:15-16:30) erkennen konnten.
2.) Garten des "Meisters der Netze", des Fischers (16:55-17:40): in unmittelbarer Nachbarschaft zu unserem Hotel liegt dieser kleinste Garten Suzhous, der vielleicht sogar als der schönste bezeichnet werden kann, weil er höchst anschaulich, die typischen Bauelemente (See, Pavillons, Wohnhäuser, Höfe, Wandelgänge) auf engstem Raum verbindet. Er wurde bereits im 12. Jh. angelegt und diente einem Beamten als Ruhestandssitz.
3.) Bummel durch die Stadt zu den Zwillingspagoden (Shuang-Ta), (17:25-19:00): Frau Zhou wollte uns einen geruhsamen Spätnachmittag zur Erholung von der langen Nachtfahrt gönnen und setzte darum keinen weiteren Programmpunkt an, zumal alle geschlossenen Anlagen ab 17:00 für Besucher nicht mehr zugänglich waren. Darum entschlossen wir uns, einen ausgedehnten Spaziergang über Brücken, längs Kanälen, durch Straßen und Gassen zu einer Tempelanlage zu machen, von der die Kulturrevolution lediglich die beiden zierlichen Holzpagoden verschont hatte.
letzte Änderung: 27.11.2019 · Copyright © 2003 - 2024 by Angelika Rosenzweig